Im Wesentlichen nichts neues
Ein Ordner, angelegt am 30.12.2019 mit dem Namen „2020“, liegt auf der Festplatte. Aufgeteilt in Unterverzeichnisse „RAW“ und „Shooting-Session“. Ein Ordner wie jeder andere auch. Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich der Unterschied: 2019 direkt darunter ist 550 Giga-Byte groß, 2018 beinhaltet 380 Giga-Byte Bildmaterial und 2020? Knappe 110 GB.
Was im Januar enthusiastisch begonnen hat, mit Planungen, Terminen, Studioaufbauten und Absprachen mit Modellen, Locations, Visa und allem Drumherum kam Ende Februar ins Stocken und nach der ersten Märzwoche komplett zum Erliegen.
Pandemie: Ein im fernen China aufgetretenes Virus legt Deutschland lahm und damit auch mein Hobby. Seit Ende Februar kein Fototermin mehr - alles gecancelt.
Warum? War es Panik, wie so viele mir schrieben? Unzählige haben mich ausgelacht und versichert, es handele sich nur um eine Grippe - einen schlimmen Schnupfen vielleicht. Mehr nicht. Es sterben, wenn überhaupt nur alte Leute und die auch nur dann, wenn sie Vorerkrankungen hätten.
Dumm nur, dass ich mit fast 50 Jahren zu den Älteren zähle, ein stressbedingter Bluthochdruck als Vorerkrankung gilt. Dumm nur, dass im meinem Umfeld bereits Menschen gestorben sind. Summiert bis heute sechs Personen. Allesamt nicht in einem Alter, in dem sie uns verlassen hätten müssen. „Wir alle müssen sterben und wer dem Virus nicht widersteht, der ist eben zu schwach und ist nicht wert zu überleben." - so schrieb mir ein Model, als ich eine Shootinganfrage mit dem Hinweis auf die Pandemielage und meine Einstufung als Risikogruppe ablehnen musste.
Um mich herum wurde geknipst und fotografiert, als wäre nichts geschehen, als wäre alles nur Einbildung. Von Verschwörungstheoretikern, die mir ein bedeutungsschwangeres „Du musst nur auf den richtigen Seiten im Internet suchen, dann erfährst du die Wahrheit“ zuflüsterten mal ganz schweigen.
Ich bin zu alt für diesen Sch...
Das erste Mal, dass ich mir Gedanken darüber machte, ob ich zu alt für dieses Hobby bin. Unbedarft und fröhlich ging die Generation Y (Millennials) ans Werk und feierte ihr Hobby. Von außen, durfte ich als alter Sack nur zuschauen.
Ich sah wie Ideen mit dem Model zusammen zu jüngeren Fotografen abwanderten. Der Punkt, an dem ich mich entschloss, das Hobby an den Nagel zu hängen. Das Inserat für meine Kameraausrüstung im Gebrauchtmarkt war veröffentlicht.
Mehr und mehr Modele entfolgten meinen Instagram Account, obwohl wir bereits für 2020 über Fototermine gesprochen hatten. Irgenwann zog ich die Reißleine und löschte meinen Account. „Ich bin zu alt für diesen Mist“ - dessen war ich mir sicher.
Zwei Monate die dringend notwendig waren.
Fotografie ist nicht Instagram
Nach der Instagram-losen Zeit ist mir klar geworden: Ja, ich bin zu alt. Aber nicht für die Fotografie. Sondern zu alt, um ein bestehendes Risiko für mich und vor allem für andere falsch einzuschätzen. Zu alt, als dass ich nicht wüsste, dass ein Virus darauf pfeifft, wen es befällt. Zu alt, als dass ich nicht die Augen weit geöffnet habe und sehe, was in anderen Ländern abgeht.
Aber zu alt für die Fotografie? Nein, niemals. Zu alt für Instgram? Viellleicht, da ich ein Alter habe, bei dem Oberflächlichkeit als Schwäche gewertet wird und nicht als Charakterstärke.
In meinem Alter weiß man, dass es Dinge gibt, die sich rächen. Und siehe da: Ab Herbst war das, was alle progonstiziert haben Realität.
Ein Hobby darf nie auf Kosten der Gesundheit gehen. Wer Menschen fotografiert hat Verantwortung. Sich selbst aber vor allem dem anderen gegenüber. Und je älter man wird, desto mehr wird man seiner Verantwortung gerecht.
ich habe viel Kritik kassiert - viel Ablehnung. Aber auf der anderen Seite viel Zuspruch und neue Kontakte, von denen ich weiß, sie werden warten können. Nicht auf Bilder - auf einen Menschen - mich und meine Bilder. Dafür bin ich dankbar.
2020 ist für mich ein Jahr, in dem ich viele Enttäuschungen erlebt habe. Aber nur, weil ich angenommen hatte Solidarität, Rücksicht und Gemeinschaft stünde vor Egoismus und Ellenbogengesesllschaft. Hätte ich das nicht angenommen, wäre 2020 im Wesentlichen nichts neues gewesen.
Danke für eine super Community
30.12.2020 - der Ordner 2020 ist fast leer. Doch mein Nachrichten-Account dafür voll. Mit Nachrichten von Menschen, die das gleiche Wertebild haben wie ich. Menschen, die mit mir gemeinsam 2021 wieder ins Hobby einsteigen wollen. Wenn es besser wird. Die sehen, dass wir das nur gemeinsam schaffen.
Ich habe viele Kontakte verloren. Aber umso mehr gefunden.
Dafür sag ich DANKE.
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Thorsten (Mittwoch, 30 Dezember 2020 09:28)
Danke für das teilen deiner Erfahrungsberichte und deinen Gedanken dazu... traurig und wütend machend wie manche damit umgehen. Mach weiter so... Liebe Grüße Thorsten
Claus (Mittwoch, 30 Dezember 2020 18:36)
Hi Thorsten,
lieben Dank für deine Zeilen, die mich sehr freuen. Klar, ich mach weiter. Wäre ja gelacht... Danke für deinen Support und deine Motivation
Gruß Claus und komm gut und gesund ins neue Jahr.